Die Bibel frottieren

Die Bibel frottieren
von Peter Killer, Kunstvermittler
Die Künstlerin Carmen Cabert Steiner beschäftigt sich seit einigen Jahrzehnten mit der Technik der Frottage. Um was geht es? Wikipedia klärt: «Die Frottage (frz. frotter = reiben) oder Abreibung geht auf ein altes chinesisches Verfahren zurück, deren künstlerisches Potential von Max Ernst ab 1925 für die Bildende Kunst neu entdeckt und weiterentwickelt wurde. Bei der Frottage wird die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes oder Materials durch Abreiben mittels Kreide oder Graphit auf ein aufgelegtes Papier übertragen.
Anders als ein Abklatsch, ein Abreib-Verfahren zur Wiedergabe gravierter Inschriften, dient die Technik der Frottage nicht der originalgetreuen Reproduktion eines Vorbildes, sondern ist selbst künstlerisches Stilmittel zur Integration vorgefundener Strukturen in ein Bild. Farbflächen erhalten etwa die Struktur von Stoffen, Holzmaserungen, groben Steinplatten, Blättern oder anderem.»
Die intensive bildnerische Auseinandersetzung von Carmen Cabert mit dem «Buch der Bücher» ist weniger alt als jene mit der Frottage. Aversion und Affinität gegenüber der Bibel ergaben eine energieerzeugende Reibung. In manchen Brockenhäusern sind Bibeln günstig erhältlich. Vermutlich, weil die einen Brockenhausbetreiber nach Wohnungsräumungen Skrupel plagen würden, wenn sie «Gottes Wort» dem Verbrennungsfeuer übergeben würden. Carmen Cabert hat Dutzende von alten, zerlesenen oder kaum aufgeschlagenen Bibeln nachhause genommen.
Es mag lästerlich erscheinen, dass sie die Bibeln zerlegt und die Seiten mit einem der Kunst von Jackson Pollock verwandten Acryl-Lineament überzogen hat, das ein fein profiliertes Relief bildet. Diese Matern bilden die Grundlage von den Abreibungen. Frottagen, die 1:1 das Vorgegebene nutzen würden, interessieren die Künstlerin nur wenig. Im Lauf der Arbeit verschiebt sie das Blatt, auf dem sie «frottiert», überlagert sie den einen Abrieb dem andern. Zufall und Erfahrung spielen da zusammen.
Um Bibelillustrationen im engeren Sinn handelt es sich bei Carmen Cabert Blättern nie. Aber um Bilder, die ein Rezeptionserlebnis spiegeln. Lesen – sei es die Bibel oder etwas Weltliches – heisst aneignen. Bei der Lektüre bleibt vor allem hängen, was einen betrifft.  Leserinnen und Leser frottieren die Texte, reiben ab, was zu ihnen gehört. Carmen Cabert Auseinandersetzung mit der Bibel macht das wunderschön und auf geheimnisvolle Weise sichtbar.