Die zwei Gesichter der Carmen Cabert

Peter Killer Kunstkritiker und Dozent ZHDK 2004

Als sanfte, stille, umgängliche Person kenne ich Carmen Cabert, die aber jegliche Zurückhaltung verliert, wenn die Rede auf die Macht, bzw. den Machtmissbrauch der Kirche kommt. Aus dem tiefsten Inneren kann die Empörung aus ihr herauslodern.

Die Aufforderung, das Alte und Neue Testament als literarische und philosophische Werke zu lesen, sich bei der Lektüre von konfessionellen Ressentiments abzukoppeln, hat sie vor ein, zwei Jahren ernst genommen und sich im Brockenhaus eine Bibel beschafft, die nicht die einzige geblieben ist. Nicht auf dem Nachttischchen sind diese Bücher gelandet, sondern in ihrem Atelier. Als Einstieg wählte sie den unbiblischsten aller Bibelteile, das Hohelied, einen so poetischen wie erotischen Text. Die Aversion wandelte sich in eine Faszination, die nota bene von Aggression keineswegs frei ist. Bei einigen ihrer gestalterischen Auseinandersetzungen mit der «Heiligen Schrift» reagiert sie auf die unsägliche Gewalt, die einzelnen Menschen oder ganzen Völkern in biblischer Mission angetan worden ist, indem sie gleiches mit ähnlichem vergilt und das «Buch der Bücher» im wortwörtlichen Sinn demontiert.

Im die Bibel umkreisenden Werkzyklus hat Carmen Cabert ein neues Thema gewählt. Aber es ist die alte, janusköpfige Künstlerin Carmen Cabert, die sich hier äussert. In ihrem Gestalten äussert sich seit langem sowohl eine stark ausgeprägte Introversion und eine nicht minder gut ausgebildete Extraversion. Diese Zweigesichtigkeit zeigt sich ganz selten bei Kunstschaffenden. Bei Carmen Cabert stehen zarte, meditative, gespinstartige Frottagezeichnungen heftigen, wilden Malereien, Materialbildern und Objektassemblagen gegenüber. Hier leise, graphische Gedichte, dort aufbegehrerische Werke, die eruptiv aus ihr herausbrechen und oft die Brutalität der Welt und deren unheilvolle Ordnung zu brandmarken scheinen.

Carmen Cabert hat in den Bibeln gelesen, die sie be- und verarbeit hat. 1888 hat der einst so gottesfürchtige Vincent van Gogh seinem Bruder Theo geschrieben: «Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass man den lieben Gott nicht nach unserer Welt beurteilen darf, denn das ist eine Studie, die ihm misslungen ist. Was soll man da machen? - Wenn man den Künstler liebt, dann findet man an seinen misslungenen Studien nicht viel zu tadeln - man schweigt. Aber man hat das Recht, bessere zu verlangen.» - In ihrem Bibel-Zyklus lernen wir eine Carmen Cabert kennen, die nicht schweigen will