Etwas über die Religion der Nacktschnecken
Etwas über die Religion der Nacktschnecken
(Nacktschnecken bringen Herrn Papst zu Fall)
Auf den Feldwegen, die ich täglich gehe, gibt es viele Schnecken, nackte ebenso wie solche mit kunstvollen Häusern. Letztere bestaune ich fast mehr als die lebendigen Wesen selbst. Bisweilen fotografiere ich sie sogar. Bei Nacktschnecken käme mir das nicht in den Sinn. Sie sind mir lästig, und manchmal kommen sie mir richtig blöd. In Scharen fallen sie in meinen Garten ein und fressen mir die Beete kahl. Dabei wisse sie genau, dass sie das nicht dürfen. Ich habe es ihnen hundertmal gesagt.
Wenn es geregnet hat, bedecken so viele den Weg, dass ich gar nicht umhinkomme, die eine oder andere zu zertreten. Gelegentlich packt mich die Wut, und ich stampfe gezielt auf eine besonders fette Schnecke. Schlecht für sie, schlecht für die Schuhe, schlecht für mein Gewissen.
An anderen Tagen brennt in mir kein spezifischer Hass. Dann setze ich einfach Schritt vor Schritt, in exaktem Gleichmass, ohne darauf zu achten, wohin ich trete. Ich verfolge keine Schnecke, aber ich weiche auch keiner aus. Wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort ist, dann ist es ihr Problem. Ich kann mich darauf hinausreden, dass es mir nicht zuzumuten ist, beim Spazieren unentwegt den Blick auf den Boden zu richten. Schliesslich will ich wie Immanuel Kant das moralische Gesetz in mir und den gestirnten Himmel über mir erkennen. Da muss halt hin und wieder eine Schnecke dran glauben.
Es gibt aber auch Tage, an denen in meiner schwarzen Seele der Albert Schweitzer erwacht. Ehrfurcht vor dem Leben! Dann achte ich darauf, dass ich keinem Geschöpf auf meinem Weg, sei ein Käfer, ein Regenwurm oder eine Schnecke, etwas zuleide tue, und man sieht mich auf eine Weise einherstaksen, die an das "Ministry of Silly Walks" bei Monty Python erinnert.
Plötzlich durchfährt mich der Gedanke, dass sich meine Verhaltensmuster aus Sicht der Schnecken mit religiösen Vorstellungen in Verbindungen bringen lassen: Für sie bin ich vermutlich je nachdem der zürnende Gott, der gleichgültige Gott oder der gütige Gott. Ich kann strafen, schweigen oder verzeihen. Das wird unter ihnen zu lebhaften Debatten darüber führen, ob sie mich fürchten oder verehren, hassen oder leugnen sollen. Die Epikureer unter ihnen werden sagen, es sei das Beste meinen jungen Salat zu geniessen und im Übrigen nicht gross nach mir zu fragen. Einige werden glauben, ich hätte sie erschaffen und sie seien mein Eigentum, andere werden behaupten, es gebe mich gar nicht.
Gerade knatscht es wieder unter meinen Schuhen. Ich gleite auf etwas Schleimigem aus und schlage der Länge nach hin. Damit hat das Volk der Schnecken seinen Winkelried! Eine von ihnen, wird es heissen, habe sich geopfert und mich zu Fall gebracht.
von Manfred Papst
(danke dafür)