F. und die Schnecken von Simon Chen
F. und die Schnecken
Es war vor einem Vierteljahrhundert in Bern (für Schnecken eine schier biblische Zeitspanne).
Ambitionierte Schauspielschüler probieren sich auf der Studiobühne aus, loten die eigenen und fremde Grenzen aus.
F. legt sich splitternackt, in Embriostellung, auf einen Tisch und lässt sich eine Handvoll Nacktschnecken auf ihren Körper legen.
In den nächsten Stunden wandern sie auf dem regungslosen Körper herum und hinterlassen Schleimspuren. Weichtiere auf Weichteilen.
Die sonst quirlige, bewegliche, aktive, tanzende, singende, spielende F. wird auf einmal von den Schnecken überholt, überfahren, gezeichnet, erobert.
Sie spürt die sprichwörtliche Langsamkeit dieser Tiere am eigenen Leib. Zärtliche Kitzeleinheiten in Zeitlupe. F., ganz Haut, ganz Oberfläche, denkt sich: so fühlt sich Zeit an.
Das lautlose, sanfte, aber körperlich erfahrbare Zerinnen der Zeit.
Nach einer aufgeregten Anfangsphase lassen die langsam über die Körpertopografie gezogenen Linien der wandernden (sich wundernden?) Nacktschnecken den Puls der Performerin allmählich abflachen.
Ihr Herzschlag und der Rhythmus der wellenförmigen Fortbewegung ihrer künstlerischen Komplizinnen haben sich angeglichen.
Das war vor fünfundzwanzig Jahren (Was haben Schnecken wohl für ein Zeitempfinden?).F. hat die Schnecken längst hinter sich gelassen.
Aber heute ist sie Burlesque-Tänzerin. Zumindest die Nacktheit hat sie eingeholt.
Simon Chen