Mein Michelangelo
Timo Goldmann, Kunsthistoriker 2009
Nur selten geraten künstlerische Auseinandersetzungen mit Michelangelos Werk zum Dialog. Carmen Cabert Steiner ist dies gelungen. In ihren Werken wird nicht zitiert oder paraphrasiert, nicht gedeutet oder gewertet. Carmen Cabert hat Michelangelo auf völlig überraschende Weise zu ihrem Medium gemacht. Sie fordert ihn zum Dialog auf und erhält überraschende Antworten. Sie überformt durch unterschiedliche künstlerische Verfahren Reproduktionen seiner Fresken und setzt sich auf diese Weise mit den reproduzierten Formen und Farben spontan und schöpferisch auseinander. Carmen Cabert findet zu einem subjektiven über die blosse Aneignung weit hinausgehenden Zugang zum Werk des Jahrhundertsgenies und macht ihn damit zu ihrem Michelangelo.
Peter Killer formulierte das anlässlich einer Ausstellungseröffnung so: "Carmen Cabert eignet sich Michelangelo an, macht etwas Eigenes, Subjektives aus etwas Klassischem, Allgemeinbesitz Gewordenem." Durch das subjektive Aneignen, das die Werkgruppe Mein Michelangelo auszeichnet, bietet die Künstlerin aber auch dem Betrachter die Möglichkeit, die oft allzu bekannten und verinnerlichten Einzelmotive der Sixtinischen Fresken, neu zu sehen und für sich subjektiv neu zu deuten.
In Ihren Zeichnungsfolgen entmaterialisiert Carmen Cabert Michelangelos homogene Formen. Die klassische Zeichnung transformiert sie im dynamischen Prozess der schrittweisen Auflösung in ein bewegtes und heterogenes Spiel von Linien und Strichen bis zur Idee zurück. Am Ausgangspunkt, das heisst beim kreativen Ideenkern angekommen, beginnt ein neuer Prozess des Gestaltens. Mit ihren farbigen Liniengespinsten findet sie zu eigenen vollendet schönen Gebilden, deren Abkunft aus den Fresken Michelangelos nur im direkten Vergleich als möglich erscheint. Einen Höhepunkt stellt die Folge von Werken dar, bei denen die Künstlerin die Reproduktionen grossflächig mit dunklen Farben übermalt. Durch partielle Freilegungen entfalten Michelangelos Gestalten eine überwältigende Wirkung. Die Maskierung ihrer zeitlos klassischen Gesichter und Körper führt zum unmittelbaren Sichtbarmachen von ewig menschlichen Gefühlsregungen wie Liebe und Hass, Glaube und Angst, Hoffnung und Verzweiflung und damit zu einer Demaskierung der immer währenden Menschlichkeit von Michelangelos Kunst.
Mein Michelangelo bedeutet für Carmen Cabert aber noch mehr als die Auseinandersetzung mit künstlerischen Mitteln. Viele der Werke transportieren in Form von Aufschriften ihre Gedanken- und Ideenwelt. Durch diese zusätzliche Ebene des Wortes wird für den Betrachter der Arbeiten das tiefe persönliche Verhältnis zwischen der Künstlerin und Michelangelo nachvollziehbar und - für jeden anders - anfassbar.
Die Begegnung mit dem Kraftzentrum Sixtinische Kapelle löst seit Jahrhunderten unterschiedlichste Reaktionen aus. Ehrfürchtiges Staunen oder spontane Ablehnung sind dabei die häufigsten Empfindungen. Schöpferischen Menschen verlangt die Begegnung mehr ab, sie erhalten Impulse, die das eigene künstlerische Schaffen beeinflussen, beleben und intensivieren oder es in Frage stellen und versiegen lassen können. Carmen Cabert gehört ohne Zweifel zu der ersten Sorte Künstler: Ihre Begegnung mit Michelangelo führt über Aneignung und Auseinandersetzung zum schöpferischen Prozess. Mit ihren Werken wird sie zur Vermittlerin. Michelangelo spricht wieder zu uns und zwar anders als in der gewohnt klassischen mit einer geradezu aufrüttelnden und modernen Sprache. Sie, die Künstlerin wird für uns, die Betrachter, zur Mediatorin ihres Mediums.