Tisch 12 - Nadja Schiller und Eveline Steiner/Text


DREHBUCH
Der Film schmeckt ihr nicht, ein Streifen Zelluloid hängt schräg in ihrem Mundwinkel wie eine Zigarette. Sie zieht, zieht immer wieder daran, spult die Geschichte rückwärts aus ihrem Bauch auf den Teller. Abschnitt für Abschnitt hält sie vor Augen, um zu erkennen, was drauf ist. Ihr wird schlecht. Bilder kommen hoch, längst Vergessenes knäuelt auf dem Tisch. Sie kostet einen zweiten, auch nicht besser. Der nächste und übernächste, immer, immer wieder dasselbe. Alles schon mal gesehen, verdaute Erinnerungen, was soll sie damit? Sie hungert nach Neuem. Keine Bilder, davon hat sie genug. Nach Handfestem gelüstet sie, doing a handjob. Neues formen oder zumindest umformen. Also dreht sie die Filme neu, aber nicht mit der Kamera – mit einem Haken. Mit Hilfe eines Hakens ist es möglich, den Film durch bereits gearbeitete Maschen zu ziehen und damit ein zusammenhängendes Maschengebilde zu erzeugen. Sie häkelt auf Teller komm raus. Maschengebilde bis die Finger von den scharfen Kanten blutig sind. Sie häkelt Brutalos, Pornos, Horrorfilme. Sie häkelt weiter, auch wenn die Spule längst leer ist. Sie kann nicht anders. Dann häkelt es in ihrem Kopf. Am Häkelhaken bleibt alles hängen. Ein Abendkleid entsteht, das tiefe Einblicke gewährt, weisse Haut blitzt durch schwarzes Zelluloid. Es knistert bei jeder Bewegung. Männer werden umgarnt, später gefesselt. Schon mal versucht, einen Film zu zerreissen? No way.
12 Menschen sitzen an einem Tisch. Wer hat sie eingeladen? Worüber sprechen sie? Für uns war von Anfang an klar, dass unser Text nur ein Gespräch sein kann. Um die Echtheit des Dialogcharakters zu garantieren, haben wir uns während 12 Wochen gegenseitig SMS geschickt, die sich inhaltlich um den Tisch und die Objekte drehen. Ein Spiel. Nach rund 200 gesammelten Dialogsplittern, war uns nach mehr Systematik zu Mute. 12 Themen wurden festgelegt, denen wir die Sätze zuordneten. So entstand das DREHBUCH: 12 Tafelgespräche mit je 12 Gesprächsbeiträgen, insgesamt 144 Aussagen zu Caberts Tisch Nr. 12. Weil Tischgespräche aber offen sind, sich in jede Richtung entwickeln und die Teilnehmer sich ins Wort fallen, liessen wir jeden mit jedem in Dialog treten. Durch das Drehen der einzelnen Gesprächsfetzen können unendlich viele neue Dialoge kombiniert werden. Ein Spiel. Dass ein Satz ursprünglich in einem bestimmten Zusammenhang stand, erkennt man an der Farbe der Sprechblasen. Die Leitfäden, die 12 Themen, welche wir unseren Akteuren ausgelegt haben, führen wie folgt ins Labyrinth:
1. Häkeln, Stricken, Weben, Kleider, Mode
2. Realität und Fiktion
3. Regie, Inszenieren
4. Essen
5. Rollen-Spiel
6. Spulen, Durchdrehen und Überschnappen
7. Stories, Schicksal
8. Zeit
9. Retrospektion – Projektion
10. Bilder, Sehen, Wahrnehmen
11. Kunst
12. Zwölf

Caberts Vorgabe war das Format A4. Daran haben wir uns ‚fast’ gehalten. (ein Buch ist entstanden)
Nadja Schiller und Eveline Steiner