Tisch 3 - Rahel Uster/Text


Ein religiöser Eiferer und Autofan, eine Liebhaberin von Katzen und surrealistischer Kunst und eine krebsbetroffene Marketingleiterin treffen sich zu einem gemeinsamen Mahl, um sich besser kennenzulernen. Dazu bringt jeder eine eigene Mahlzeit mit und erzählt den anderen zwei, was er zu verdauen hat.

Der Glaube isst’s
„In einer TV-Show habe ich einmal gesehen, wie ein Mann Gegenstände – Tassen, Teller, Blech – isst. Der Mann hat sogar ein ganzes Auto gegessen. Das hat mich beeindruckt! Es ist der Wille, der Glaube, der entscheidet, ob man etwas essen kann oder nicht!
Ich habe mich deshalb entschieden, Blech als Festmahl aufzutischen. Es ist nicht irgendein Blech – es ist ein Stück des ersten in Massen eingesetzten Katalysators, das von dem Mann aus der TV-Show bereits einmal von 1989 bis 1990 verdaut wurde und dann in einer Sammelstelle für kulinarisches Alteisen gelagert wurde. Eine wiederverwertbare Rarität also. Möchte jemand kosten?
Sollte mich der Wille, das Blech essen zu essen zu verlassen drohen, habe ich eine Bibel im Teller mit drin, die mich in meinem Vorhaben bestärken soll. Gestärkt hat sie mich bereits einige Male: ich konnte der Zellulose nicht widerstehen und habe ihre Papierseiten aufgegessen. Was übrig bleibt, ist eine starke Erinnerung an Wort und Werte zwischen den Buchdeckeln. “

Erbrechen für’s Aussehen: Gras zum Nachtisch
„Der Fellkrapfen ist eine Kreuzung zwischen einem Zigerkrapfen und der Oppenheimerschen Kunst. Fellkrapfen eignen sich für Kunstliebhaber, für Jäger, für Menschen, die sich fragen, wie es wohl sein muss, in warmes, lebendiges Fleisch mit pochendem Blut hineinzubeissen. Oder für Menschen, die davon überzeugt sind, in ihrem letzten Leben ein Raubtier oder einfach eine Katze gewesen zu sein.
Katzen tun etwas für ihr Aussehen! Sie reinigen sich, indem sie mit ihrer rauen Zunge mit unzähligen Geschmackspapillen sorgfältig ihr Fell lecken. Sie schlucken dabei viele ihrer eigenen Haare - sie schlucken sich selber.
Katzen essen normalerweise Fleisch - alles was nach frischem Blut riecht. Nur manchmal sieht man sie umständlich und halsreckend an hohen, grünen Gräsern kauen. Japsend versuchen sie mit ihrer grob-pappillenen Zunge das filigrane Gewächs in ihren Schlund zu schieben. Das Gras kitzelt in ihrem Hals, gehört so überhaupt nicht in ihren Katzenmagen und muss sich für die Katze etwa so anfühlen, wie wenn ein Vegetarier dazu gebracht wird, blutiges, rohes Fleisch zu schlucken. Ohne zu wissen, warum sie das tun, hilft das Gras-Fressen den Katzen, ihren Magen von den schwer verdaubaren Haaren zu entledigen. Das Gras reizt den Magen, und die Katzen beginnen zu würgen, bis alle Haare erbrochen sind.
...zum Nachtisch gibt es heute Gras.“

Gerüst für Liebe
Vor meiner Operation habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wie es ist, ein Körperteil abgeben zu müssen. Wie lange kann ein Mensch Körperteile abgeben, und ist trotzdem noch Mensch? Wird ein Mensch ein weniger wertvoller, ein minderwertigerer Mensch, wenn er Körperteile verliert? Beispielsweise ein Kind, das in eine Mine läuft und dabei einen Fuss verliert? Ein Mensch, der eine Niere an einen Angehörigen abgibt – ist vielleicht gesundheitlich anfälliger, aber ist er deshalb weniger liebenswert? Wird ein Mensch seiner Organe willen geliebt? Wohl kaum, würden Sie sagen...?!

Ich arbeite in der Unterwäsche-Industrie – ich schalte Werbungen, eine leitende Marketing-Funktion in einem Milliardenbusiness. Kaum eine Zeitschrift, in der uns nicht ein Frauen Po oder - Dekolleté entgegenlächelt. Büstenhalter, die versprechen, dass man mehr geliebt wird, wenn man sie trägt. Büstenhalter, die eine vermeintliche Garantie für Liebe herumtragen sollen. Der Markt funktioniert. Die Käuferinnen und Käufer raufen sich in Umziehkabinen um limitierte Unterwäschekollektionen - in der Hoffnung auf ein bisschen mehr Liebe.
Wegen Krebs musste ich meine Brüste abnehmen lassen. Ich bin in doppelter Hinsicht ‚erleichtert’; der Krebs ist nun weg aber auch die Brüste. Alles was bleibt, ist das Gerippe des Büstenhalters, das alte Gerüst für die Liebe.“