Tisch 9 - Peter Schaufelberger/Text


Ave Maria
„Ave Maria, gratia plenum, dominus tecum“: So hast Du gebetet, hundertmal, tausendmal. Hast die Ave heruntergeleiert, Dir im Beichtstuhl auferlegt als Busse für Deine Kindersünden. Hast in der Fronleichnamsprozession die Holzperlen Deines Rosenkranzes durch die Finger gleiten lassen, Deine Stimme eingemischt in den murmelnden Chor der Betenden. Hast das „Magnificat anima mea dominum“ auswendig hersagen können und das Credo, wie es im Katechismus vorgeschrieben war. Lateinisch, erst später in Deiner Muttersprache.

Nun sind die Gebetbücher leer, Dein eigenes und die vielen, die Du zusammengekauft hast, um sie auseinander zu reissen. Geblieben sind die Buchdeckel, ein paar farbige Buchzeichenbändel, ein Edelweiss, das jemand zwischen zwei Seiten gepresst hatte. Da und dort hast Du Übermalungen hinzugefügt, erinnerte Spuren von Landschaft, drei Lastenträger als Helfer beim Wegtragen der herausgerissenen Seiten. Und auf einem Teller unter durchsichtiger Cellophanfolie ein Felldreieck - noli me tangere, berühren verboten - „nicht“ nur „für den Papst“.

„Gegrüsset seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“. Und Du fährst weiter, wie Du es einstmals gelernt hast: „Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“. Du stockst nicht einmal bei diesem altertümlichen Wort, kennst den Rosenkranz immer noch auswendig, den freudenreichen, den schmerzhaften und den glorreichen und zu jedem die fünf Gesätzlein oder Geheimnisse. Doch es sind nicht mehr die Gebete der „una sancta catholica“, nicht mehr die Gebete, die Du auswendig lernen musstest und hundert- oder tausendmal hergesagt hast. Nicht mehr die Gebete aus den Büchern, deren Seiten Du herausgerissen hast. Es sind Deine Gebete geworden, Dir gehörig, wie Du zu ihnen gehörst - Deine Gebete, die nicht von Dir lassen, und von denen Du nicht lassen kannst.

Peter Schaufelberger