Weisse Flecken dieser Welt

Regula Zellweger, Anzeiger Affoltern a.A. 15.4.08

Spuren von Sterben und Entstehen im Wald sichtbar machen

In einem Bachtobel bei Bonstetten hat die Künstlerin Carmen Cabert Steiner nah bei ihrem Wohnhaus die Schnittflächen der Strünke frisch geschnittener Bäume weiss bemalt. Rund 66 weisse Flächen verzaubern nun dieses Stück Wald - ganz besonders nachts bei Mondschein.

Wenn man von Birmensdorf nach Hedingen fährt und nach der Scheune am rechten Strassenrand, etwa hundert Meter vor der Bahnüberführung und der Abzweigung nach Islisberg bei der rechts abzweigenden kleinen Strasse bergauf schaut, fallen strahlendweisse Flecke auf dem Waldboden auf. Sie leuchten durch die unbelaubten Bäume und mit jedem Schritt, den man bergauf geht, verändert sich das Muster. Nachts zaubern die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos ein gespenstisches Lichtspiel in den Wald. Langsam wird das Weiss der biologisch abbaubaren Farbe wieder verschwinden, das spriessende Grün wird die weissen Flecke verdecken, Moos wird darüber wachsen - Rückeroberung. Und irgendwann wird nichts mehr zu sehen sein vom Projekt der Künstlerin Carmen Cabert Steiner.

Nachdenken

Wie kommt jemand dazu, mit Farbkessel und Pinsel an steilen Hängen herumzukraxeln und Baumstrünke weiss zu färben? Geplant hat Carmen Cabert Steiner diese Inszenierung nicht. „Sie wurde mir quasi vor die Türe geworfen“, erklärt sie. Zahlreiche Bäume wurden vor ihrem Haus gefällt und die Schnittstellen faszinierten Carmen Cabert Steiner. Sie liess sie bewusst schräg schneiden. Das Bemalen dieser Flächen, das die Spuren der Motorsäge und die Struktur der Jahrringe sichtbar macht, war für sie ein tiefes Erlebnis, sie beschreibt es als eigentlichen Flow-Zustand.

Sie selbst geniesst den Anblick der „Weissen Flecke dieser Welt“, wie sie ihr Werk nennt, zu den unterschiedlichsten Tageszeiten und bei verschiedenen Wetterlagen. Schaut – und denkt nach. Über die Natur, über das Leben, das Werden und Vergehen, über Sinn und Achtsamkeit.

Natur

„Die Natur ist mein Lebenselixier. Ich lebe mit der Natur, bin voll drin, organisch, sichtbar in meiner Kunst“, so beschreibt Carmen Cabert Steiner ihre intensive Beziehung als Künstlerin zur Natur. Ihr Haus ist sehr abgelegen, am Wanderweg von Bonstetten nach Islisberg, und bei schönem Wetter kommen viele Wanderer vorbei. Die Leute schauen, bleiben stehen, staunen - und schon ist ein Gespräch in Gang. Die Menschen nehmen so erst das Tobel intensiv wahr, auch wenn sie schon hundert Mal daran vorbeigefahren sind. Und Wahrnehmung ist der erste Schritt, um über tiefere Zusammenhänge nachzudenken. Carmen Cabert Steiner unterstützt die Aussage von Max Bill: „Das Ziel der konkreten Kunst ist es, Gegenstände für den geistigen Gebrauch zu entwickeln, ähnlich wie der Mensch sich Gegenstände schafft für den materiellen Gebrauch“.

Glitzernde Spirale

In einer Wiese neben dem Haus der Künstlerin stecken 49 rote und blaue Sektflaschen im Boden. Darauf sind 49 CDs geleimt. Wenn die Sonne einfällt, glitzern und glänzen die Scheiben. Carmen Cabert begeht mindestens einmal pro Tag dieses Labyrinth – dies bis zu ihrem fünfzigsten Geburtstag. Sie zelebriert diesen Übergang bewusst. „Ein Kreis der sich öffnet, wird zur Spirale“, meint sie vielsagend. Auch Sprache ist für die Künstlerin ein wichtiges Ausdrucksmittel. Sie hat Freunde und Bekannte gebeten, schriftlich zu den weissen Flecken Stellung zu nehmen. Diese beeindruckenden Aussagen kann man unter Feedback nachlesen.

Es lohnt sich, eine Wanderung mit dem Erleben der „Weissen Flecke dieser Welt“ zu kombinieren – für Stoff zum Nachdenken und für Gespräche ist gesorgt.